Auf der Ausgabenseite sind die Hauptfaktoren:
- eine kontinuierliche Zunahme stationärer Behandlungen („Fälle“) in Verbindung mit der demographischen Entwicklung der Bevölkerung, allein seit 1995 von über 10 Prozent
- die im medizinischen Bereich hohe Teuerungsrate, besonders in Verbindung mit neuen Therapien. Dabei erzwingt die Industrie im „Wachstumsmarkt Gesundheit“ mit überhöhten Preisen Traumrenditen für ihre Aktionäre
- gestiegene Personalkosten durch die überfälligen Tariferhöhungen
- überproportionale Kostensteigerungen u.a. für Energie.
II Maßnahmen, mit denen die Krankenhausträger seit mehr als 10 Jahren versuchen, die Dauerkrise zu meistern, sind:
- ein Abbau von ca. 100.000 Stellen seit 1995, vor allem in Pflege und Servicebereichen
- Tarifflucht und Lohnsenkungen auf vielfältige Art und Weise (Abgruppierungen und Gehaltsabsenkungen im TVÖD, Ausgründungen, Outsourcing, Haus- oder Notlagentarifverträge, Dequalifikation von Teams durch un- und angelernte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter u.a.m.)
- Umwidmung von laufenden Betriebsmitteln für dringende, von Länderseite nicht alimentierte Investitionen
- Privatisierung vor allem ehemals kommunaler Kliniken
- Arbeitsverdichtung, Rationalisierung, Straffung betrieblicher Abläufe ungeachtet der Konsequenzen für die Versorgungsqualität und ungeachtet sich kontinuierlich verschlechternder Arbeitsbedingungen für das Personal.
III Angebliche und wirkliche Rationalisierungspotentiale sind längst ausgeschöpft.
Ausmaß und Richtung der Veränderungsprozesse erreichen ein ungesundes, bedrohliches Ausmaß für die Betroffenen:
- Im Mittelpunkt eines modernen Klinikums stehen nicht die Patienten, sondern optimierte, kosteneffektive und störungsfreie Abläufe eines modernen Industriebetriebes. Patientinnen und Patienten müssen als in die Abläufe einzupassende Werkstücke behandelt werden.
- Dabei ignoriert das moderne Klinikum die banale Erkenntnis, dass personenbezogene Dienstleistungen kaum rationalisierbar sind, ohne die Qualität dieser Dienstleistungen zu mindern.
- Die Fixierung z.B. auf möglichst kurze Verweildauern im Krankenhaus, ohne entsprechende Verzahnung von stationärem und ambulantem Sektor, geht völlig an den Bedürfnissen zahlloser älterer, unterstützungsbedürftiger und multimorbider Patienten vorbei.
- Der Patient wird vor allem als abstrakter Träger verschlüsselbarer Diagnosen behandelt. Diese Diagnosen rechtfertigen standardisierte „Prozeduren“, die dem Klinikum jeweils einen definierten finanziellen Erlös erbringen. Die aufmerksame Wahrnehmung der individuellen Besonderheiten des Kranken steht also genauso im Widerspruch zur Denkungsart eines Fallpauschalensystems wie kreatives Umgehen mit komplexen Konstellationen.
- Das völlige Fehlen einer unabhängigen wissenschaftlichen Begleitforschung zum DRG-System kommt dem Eingeständnis gleich, dass die Entwicklung der Qualität der stationären Versorgung unter dem DRG-System eine beliebige abhängige Variable war. Wirkliches Ziel war ein Rationalisierungsprozess zur Kostensenkung. Ein Nachweis von Qualitätsverlusten wäre allen Verantwortungsträgern, nämlich Spitzenverbänden im Krankenhausbereich, gesetzlichen Krankenkassen, den verantwortlichen Politikern in Bund und Ländern bis hin zu den Gewerkschaftsspitzen unangenehm gewesen.
IV Vielfältige Aktionen vom Ärztestreik 2006 bis zu der eindrucksvollen, bundesweiten Demonstration in Berlin am 25. September 2008 haben öffentliches Bewusstsein und breite gesellschaftliche Akzeptanz geschaffen für Forderungen nach Veränderung.
So sahen sich die politischen Entscheidungsträger gezwungen, wenigstens einige Erleichterungen im Krankenhausfinanzierungsreformgesetz zuzusichern:
- Die Krankenhäuser sollten 2009 3,5 Mrd. Euro mehr als 2008 erhalten;
- im Zeitraum 2009 bis 2011 sollten bis zu 17.000 zusätzliche Pflegestellen mit jeweils 90 Prozent bezusschusst werden;
- Tariferhöhungen in 2008 und 2009 sollten, soweit sie die Veränderungsrate (2009: 1,41 %) übersteigen, zu 50 Prozent erstattet werden;
- die strikte Bindung der Krankenhausbudgets an die Entwicklung der Grundlohnsumme soll ab 2011 durch einen Regierungsbeschluss auf Basis der Kalkulation der Preissteigerung der Krankenhäuser nach einem Warenkorb durch das Statistische Bundesamt ersetzt werden.
Auf Betreiben der GKV hat das BMG im laufenden Gesetzgebungsverfahren versucht, diese Zugeständnisse mit einigen raffinierten Taschenspielertricks zu hintertreiben, so dass die Krankenhäuser in einigen Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen und Bayern am Ende schlechter herauskommen würden als ohne das aktuelle Reformgesetz (zu den Details siehe die Veröffentlichungen des „Aktionsbündnis Rettung der Krankenhäuser“).
Nach wie vor hat also ein rücksichtsloser Sparkurs Priorität für BMG und GKV, was angesichts der beginnenden Wirtschaftskrise nicht wundernimmt: den zu erwartenden Einbruch der Einnahmen des Gesundheitsfonds hätte im Wahljahr 2009 der Bundeshaushalt auszugleichen.
Der vdää fordert für die Zukunft:
- Unabhängig von Wahlterminen brauchen wir eine breite gesellschaftliche Diskussion über die Zukunft des deutschen Gesundheitswesens, die sich von den andauernden, kurzfristigen Verteilungskämpfen löst, gesellschaftlichen Bedarf definiert und daraus folgerichtige politische Projekte ableitet.
- Die Krankenhausbedarfs- und Investitionsplanung muss als Daseinsvorsorge in öffentlicher Verantwortung gestärkt und demokratisiert werden. Deregulierung und Strukturentwicklung nach den betriebswirtschaftlichen Kriterien profitorientierter Klinikkonzerne müssen sukzessive zurückgedrängt werden. Gesundheit soll keine Ware sein.
- Der stationäre Sektor braucht stabile finanzielle Grundlagen. Dazu muss über eine Bürgerversicherung endlich die finanzielle Basis der GKV verbreitert und für die Zukunft gesichert werden.
- Wir brauchen dringend eine unabhängige Versorgungsforschung, die anhand Qualitätsindikatoren medizinische Maßnahmen bewertet. Aktuelle Fallpauschalen erlauben nur Aussagen über durchschnittliche Kosten medizinischer Prozeduren – nicht über die Sinnhaftigkeit, den Stellenwert gegenüber alternativen Behandlungsverfahren oder gar über Auswirkungen auf die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten. Die dafür verausgabten Geldmittel wären eine Investition in die Humanisierung des Gesundheitswesens auf dem Weg einer gesellschaftlich sinnvollen Steuerung der Versorgungsrealität.
München, 18.Dezember 2008
Prof. Dr. Wulf Dietrich (Vorsitzender des vdää)
Dr. Peter Hoffmann (Mitglied des erweiterten Vorstands)