Erst vor ein paar Tagen hat sie wieder hautnah mitbekommen, wie ein Belegarzt eines Krankenhauses einen alten Herrn mit Herzschwäche abgewiesen hat. Der Rettungsdienst sollte weiterfahren und ihn ins Uniklinikum bringen, so die Ansage. Der Grund: Der Verdacht lag nah, dass der Patient unter einem ansteckenden Keim litt. Damit hätte er in ein Einzelzimmer gemusst. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht fürs Krankenhaus ein Verlustgeschäft. »Das ist ein Paradebeispiel für die Ökonominierung unseres Berufs«, sagt Renate Demharter, Fachärztin für Notfallmedizin am Klinikum Augsburg und Sprecherin der ver.di-Bundesfachkommission Ärztinnen und Ärzte. Der ökonomische Druck auf die Entscheidungen der Ärzteschaft werde immer größer. Die Mitglieder der Fachkommission wollen dagegen ein Zeichen setzen. Deshalb haben sie einstimmig beschlossen, im Namen der Ärzt*innen in ver.di den Ärztekodex »Medizin vor Ökonomie« zu unterstützen.
»Es ist schade, dass es so etwas braucht«, so Demharter. Doch bei den Treffen der Bundesfachkommission hätten die Mitglieder immer wieder geklagt, dass dieser ethische Grundsatz viel zu wenig beachtet werde. Formal haben alle Ärztinnen und Ärzte im Hippokratischen Eid geschworen, dass sie mit ihrer Tätigkeit nur dem Wohl der Patientinnen und Patienten verpflichtet sind. »Eigentlich«, fügt die Sprecherin der Bundesfachkommission hinzu. In Krankenhäusern sehe der Alltag leider häufig anders aus. Der Druck werde immer größer, stets auch die Kosten im Blick zu haben. Welche Behandlungen bringen viel Geld? Und welche gelten als Minusgeschäft? »Das ist für alle ein Thema.« Krankenhäuser würden dazu gedrängt, keine Defizite zu erwirtschaften – oder wie im Fall von privaten Konzernen wie Helios & Co. sogar Gewinne abzuwerfen und Aktionäre zu befriedigen, kritisiert Demharter.
Dafür ließen sich Ärzt*innen mitunter auch zu großzügigen Indikationen hinreißen. Als Beispiel nennt die Personalrätin, dass zu viele künstliche Knie- und Hüftgelenke eingesetzt würden. Eine weitere Folge sei, dass in vielen Krankenhäusern vor allem Krankheiten behandelt würden, die gute Erlöse versprächen. Die anderen Patientinnen und Patienten würden häufig in kommunale Häuser mit Versorgungsauftrag geschickt, berichtet die ver.di-Fachkommissionssprecherin. Anderes Beispiel: Kürzlich hätten sie aus Personalmangel im Klinikum in Augsburg einige Betten sperren müssen. Daraufhin habe die Controllerin verkündet, dass dadurch Einnahmeverluste entstünden. Für Demharter ist der Gedanke absurd: »Wir sollen Patienten gefährden zugunsten von Erlösen?« Doch so eine Äußerung sorge unter den Kolleginnen und Kollegen schon lange nicht mehr für einen Aufschrei.
Deshalb wollen die Ärztinnen und Ärzte in ver.di offiziell kundtun: »Halt! Medizin geht vor Ökonomie.« Die Erklärung soll auch ein Leitbild für junge Ärztinnen und Ärzte sein. Den Kodex der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) können Kolleg*innen aller Fachrichtungen unterzeichnen, allerdings jede und jeder persönlich mit seinem/ ihrem Namen. Deshalb hat Demharter als Sprecherin der ver.di-Bundesfachkommission offiziell den Anfang gemacht. Alle Mitglieder sind aufgefordert, ihrem Beispiel zu folgen. Der Akt ist rein symbolisch. Damit, so die Sprecherin, könne jeder formal erklären: »Meine Entscheidungen beruhen einzig und allein auf medizinischer Basis, die Ökonomie steht hinten an und ist mir erst einmal wurscht.«
Der Ärztecodex: Medizin vor Ökonomie
Die Ärzteschaft gerät in der Patientenversorgung zunehmend unter Druck, ihr Handeln einer betriebswirtschaftlichen Nutzenoptimierung des Krankenhauses unterzuordnen. Diese Entwicklung macht es notwendig, dem Ökonomisierungsprozess eine auf ärztlicher Ethik und Werten beruhende Haltung im Arbeitsalltag entgegenzustellen. Der Klinik Codex soll Ärztinnen und Ärzten dabei helfen, die Auswirkungen von Ökonomisierung in ihrem persönlichen Arbeitsgebiet kritisch zu reflektieren und im Arbeitsalltag ihre ärztlichen Entscheidungen für die sich ihnen anvertrauenden Patienten zu treffen. Als Ärzteschaft bekennen wir uns dazu, mit unseren verfügbaren Ressourcen möglichst effizient und wirtschaftlich angemessen umzugehen. Gleichwohl stellen wir aber das Patientenwohl immer in den Mittelpunkt unseres Handelns. Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) nimmt mit der Formulierung dieses Klinik Codex ihre fachgesellschaftliche, ethische und soziale Verpflichtung wahr, ihren Lösungsbeitrag für eine am erkrankten Menschen orientierte Gesundheitsversorgung einzubringen. Ziel ist es, die besondere Verpflichtung als Ärzteschaft im Einklang mit ihren ethischen Werten erfüllen zu können und dem Vertrauen der Patienten gerecht zu werden. Auch soll Ärztinnen und Ärzte die Sicherheit vermittelt werden, dass sie mit ihrer sich an diesem Klinik Codex orientierenden Haltung nicht alleine stehen.
Unser Versprechen als Ärzte und Ärztinnen
Ärztliche Pflicht ist es, die gesundheitliche Versorgung erkrankter Menschen ohne Ansehen von Alter, Konfession, ethnischer Herkunft, Geschlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, sexueller Orientierung oder sozialer Stellung durchzuführen. Es ist uns bewusst, dass unsere ärztlichen Entscheidungen durch nicht-medizinische Faktoren, insbesondere ökonomische Überlegungen und kommerzielle Anreize, beeinflusst werden können. Als verantwortlich handelnde Ärztinnen und Ärzte streben wir an, solche Situationen zu erkennen und unsere ärztlichen Entscheidungen stets zuerst am Wohl der uns anvertrauten Patienten
- Als Ärztinnen und Ärzte müssen wir den berechtigten fachlichen und ethischen Erwartungen der erkrankten Menschen, ihrer Angehörigen und der Gesellschaft an uns gerecht werden.
- Wir werden allen Patienten eine Versorgung unter Einsatz aller unserer Fachkompetenzen und aller ärztlichen Erfahrungen ermöglichen.
- Wissend, dass unsere medizinischen Entscheidungen, die auf Basis einer qualitätsgesicherten Medizin getroffen werden, große Auswirkungen auf die Heilung und Gesundheit der Patienten, aber auch betriebswirtschaftliche Auswirkungen haben, erklären wir hiermit, dass wir eine angemessene und wirksame Versorgung der Patienten stets unter dem uneingeschränkten Vorrang der medizinischen Argumente gegenüber ökonomischen Überlegungen planen und durchführen werden.
- Wir treffen keine ärztlichen Entscheidungen und werden keine medizinischen Maßnahmen durchführen und solche Leistungen weglassen, welche aufgrund wirtschaftlicher Zielvorgaben und Überlegungen das Patientenwohl verletzen und dem Patienten Schaden zufügen könnten.
- Wir werden den Menschen, die zu uns kommen, mit zugewandter Fürsorge begegnen und ihnen beistehen, mit ihren gesundheitlichen Ängsten umzugehen. Wir wollen ihr Vertrauen gewinnen und werden ihnen versprechen, bei ihrer Behandlung keine medizinischen Leistungen durchzuführen, welche fachlich unsinnig sind oder aus wirtschaftlichen Überlegungen heraus stattfinden sollen.
- Wir lehnen alle Leistungs-, Finanz-, Ressourcen- und Verhaltensvorgaben ab, welche für uns offensichtlich erkennbar zu einer Einschränkung unseres ärztlichen Handelns und unseres ärztlich-ethischen Selbstverständnisses führen und das Patientenwohl gefährden können.
- Wir werden die von uns getroffenen Versorgungsentscheidungen bei Bedarf den zuständigen kaufmännischen Leitungsgremien, unter Verwendung fachlich-medizinischer, patientenorientierter und ethischer Argumente, erklären.
- Wir ermutigen junge Ärztinnen und Ärzte, sich mit den durch die kaufmännischen Geschäftsleitungen vorgegebenen wirtschaftlichen Vorgaben kritisch auseinanderzusetzen und achtsam zu sein bei allen Versuchen der Einschränkung des Patientenwohls aufgrund nichtmedizinischer Aspekte.
- Wir werden unsere ärztliche Heilkunst ausüben, ohne uns von wirtschaftlichem Druck, finanziellen Anreizsystemen oder ökonomischen Drohungen dazu bewegen zu lassen, uns von unserer Berufsethik und den Geboten der Menschlichkeit abzuwenden.
https://www.dgim.de/veroeffentlichungen/aerzte-codex/
Berufsordnung Bayerischer Ärzte: § 2
Allgemeine ärztliche Berufspflichten
(1) Der Arzt übt seinen Beruf nach seinem Gewissen, den Geboten der ärztlichen Ethik und der Menschlichkeit aus. Er darf keine Grundsätze anerkennen und keine Vorschriften oder Anweisungen beachten, die mit seiner Aufgabe nicht vereinbar sind oder deren Befolgung er nicht verantworten kann.
(2) Der Arzt hat seinen Beruf gewissenhaft auszuüben und dem ihm bei seiner Berufsausübung entgegengebrachten Vertrauen zu entsprechen. Er hat dabei sein ärztliches Handeln am Wohl des Patienten auszurichten. Insbesondere darf er nicht das Interesse Dritter über das Wohl des Patienten stellen.