Sie bildet Argumente für und wider eine allgemeine Impfpflicht gegen Covid-19 ab. Die Pro- und Contra-Argumente haben wir im Folgenden graphisch unterschieden, sie stellen aber nicht die Aussagen je einer Person dar, sondern sind aus den Beiträgen zahlreicher Beteiligter zusammengestellt. Diese Beteiligten sind alle als Ärzt*innen tätig und befürworten die Impfung grundsätzlich. Kontrovers allerdings ist die Frage der gesellschaftspolitischen Implikationen und ob eine Impfpflicht gerechtfertigt und sinnvoll ist. Auch diese Diskussion behandelt nicht alle Aspekte, wir hoffen aber, dass sie zu Irritation und Weiterdenken anregt.
Die Forderung nach einer allgemeinen Impfpflicht ist populistisch. Sie soll nur von den Versäumnissen in der Impfkampagne und Coronapolitik ablenken: Weihnachtsausnahme, keine durchgehenden Kontrollen von 2G/3G, Veränderung der Quarantäneregelungen zur Aufrechterhaltung von Arbeitsabläufen und nicht aus gesundheitlichen Gründen etc. Auch mit den heute möglichen Maßnahmen ist noch sehr viel Luft nach oben, und diese Maßnahmen sollten erst einmal ausgeschöpft werden. Eine Impfpflicht wäre zudem erst sehr zeitverzögert einführbar und wirksam und hätte bestenfalls eine Auswirkung auf Winter 2022, ist aber keine Lösung für die aktuelle Situation.
Weil hinsichtlich der Impfpflicht oft ein Vergleich zu den Masern gezogen wird, muss festgehalten werden, dass dies gar nicht vergleichbar ist. Ein wesentliches Argument für die Masern-Impfpflicht für Beschäftigte in Kinderbetreuung, Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen ist, dass Geimpfte die Erkrankung nicht weiter übertragen können. Die Impfung ist damit ein Schritt in Richtung Ausrottung dieser Krankheit. Das trifft für COVID-19 nicht zu. Bei der Einführung einer Corona-Impfpflicht muss man definieren, wie lange der Impfschutz anhält, wie lange eine Boosterung wirksam ist, welcher Impfstoff verwendet werden soll und gegen welches Virus oder welche Variante der vorgeschriebene Impfstoff wirksam sein soll. Für Masern ist all das bekannt, für Corona nicht. All diese Fragen sind bisher wissenschaftlich noch nicht geklärt. Die Forderung ist deshalb auch medizinisch nicht durchsetzbar.
Zudem muss man sich die Frage stellen, wie eine Impfpflicht durch- und umgesetzt werden soll. Es heißt immer, es soll keinen Zwang geben. Aber wie soll man Impfpflicht durchsetzen ohne Zwang? Mit 2G oder 3G kann man Leute bereits ausreichend daran hindern, Veranstaltungen zu besuchen oder den ÖPNV zu benutzen, aber eine Impfpflicht würde wesentlich darüber hinausgehen. Für eine Impfpflicht braucht man Impfregister und einigermaßen fälschungssichere Impfnachweise. Das wäre ein Novum der zentralen Erfassung medizinischer Daten und ein Einfallstor für eine weitere Datenerfassung: Welche Daten sollen gespeichert werden? Aber auch ganz praktisch ergäben sich Probleme: Für die Telematikinfrastruktur (Elektronische Vernetzung der Akteure im deutschen Gesundheits- wesen) ist z.B. ein elektronischer Impfpass geplant, der seit Jahren entwickelt, aber immer noch nicht umgesetzt ist. Auch würde die Umsetzung in der Bevölkerung sicherlich auf Widerstände stoßen. Würde dann die Polizei die Kontrollaufgabe übernehmen, ähnlich wie bei Sicherheitsgurt oder Geschwindigkeitsbegrenzung? Eine fehlende Impfung sieht man jemandem nicht an wie andere Ordnungswidrigkeiten. Es ist weder die Aufgabe der Polizei, noch die von Sicherheitsdiensten oder Kontrolleuren im ÖPNV oder bei der DB, das dauerhaft zu kontrollieren. Und worin bestehen dann die Konsequenzen einer Verletzung? Es müssten Strafgelder bei Nichtbefolgung verhängt werden und diese müssen bei Verweigerung mit Zwangsmaßnahmen eingefordert werden können. Andernfalls macht der Gesetzgeber sich lächerlich. Es gibt auch enorme arbeits- und sozialrechtliche Probleme. Nach dem geänderten Infektionsschutzgesetz für eine einrichtungsspezifische Impfpflicht ist eine Abmahnung und wahrscheinlich auch Kündigung bei Nichteinhaltung der Pflicht möglich. Es ist fraglich, ob Lohnersatzleistungen gezahlt werden müssen u.ä. Bei diesen Konsequenzen ist der Übergang von der Impfpflicht zum Impfzwang fließend.
Eine Impfpflicht ist sinnvoll und angemessen. Sie ist kein Ausgleich für bisherige Versäumnisse, aber man kann das Eine auch tun, ohne eine Veränderung des Anderen zu lassen. Es gibt zu große Impf-Lücken, so dass die Ausbreitungswellen immer wieder die gesundheitliche Versorgung aller gefährden werden. Diese Lücken wird man nur durch eine Impfpflicht schließen können.
Die Frage, was für die Erfüllung der Impfpflicht nötig ist, könnte in einem permanenten Klärungsprozess bleiben, der mit jeder neuen Variante von vorne beginnt. Die konkreten Konsequenzen einer Impfpflicht müssen also immer wieder neu festgelegt, kommuniziert und operationalisiert werden. Das ist aber machbar, wenn nötig. Die Annahme, dass auch bei Auftreten neuer, bislang unbekannter Virusvarianten eine Impfung wahrscheinlich die Schwere und/oder Häufigkeit der Erkrankung abschwächt, also in gewissem Ausmaß effektiv ist, ist meines Erachtens nach derzeitigem Wissensstand berechtigt.
Das schließt andere Maßnahmen nicht aus, man sollte sich für die Impfquote ohnehin nicht nur auf ein Instrument verlassen. Die Impfpflicht würde dort helfen, wo man die Menschen noch nicht erreicht hat. In der LINKEN waren die ostdeutschen Landesverbände besonders in Sachsen und Thüringen für eine Impfpflicht aus der praktischen Erwägung, dass sich die Faschisten der AFD mit den Impfgegner*innen zusammengetan haben. Angesichts dieser Zahlenverhältnisse besteht die begründete Sorge, dass Aufklärung und Freiwilligkeit nicht reichen werden, um eine ausreichende Impfquote zu erreichen – es ist in der gegenwärtigen Situation eine Art Ultima Ratio, für die Impfpflicht zu sein. Der Schutz von vulnerablen Menschen in Alten- und Pflegeheimen muss von uns forciert werden, da würde ebenfalls eine Impfpflicht helfen. Die institutionenbezogene Impfpflicht, also die in Alten- und Pflegeheimen, Krankenhäusern etc., kommt schneller und ist praktikabel. Das ist gut so. Und es ist gut, dass es alle trifft, die dort arbeiten, und nicht nur die Pfleger*innen und Ärzt*innen. Das wird auch helfen, den Betriebsfrieden auf den Stationen und in den Teams wiederzubringen.
Impfpflicht ist aber auch ein Gebot des Arbeitsschutzes. Letztes Jahr hatten die Health Workers weltweit die höchsten Todesraten wegen Corona. Die AOK Mecklenburg-Vorpommern hat eine Studie erstellt, die zeigt, dass die Health Workers das größte Risiko tragen, infiziert zu werden. Wir haben aber auch eine Verantwortung gegenüber den Menschen, die das nicht verstehen. Die müssen wir mitnehmen. Es ist also eine arbeitsrechtliche Verantwortung, eine Impfpflicht einzuführen, denn wir haben es auch mit unerfahrenen Menschen zu tun.
Wie kann das durchgesetzt werden? An anderer Stelle haben wir uns intensiv mit administrativen Strafen auseinandergesetzt, die bei Ersatzfreiheitsstrafen enden, wenn die Ärmsten die Strafen nicht zahlen können, wohingegen die Reicheren sich quasi »freikaufen« können. Eine Impfpflicht muss also so gestrickt sein, dass sie sich wie bei den Masern bewähren muss. Möglich wäre dies über Beschäftigungskopplung. Also immer, wenn jemand einen Job anfängt, wo er mit Menschen zu tun hat, muss sichergestellt sein, dass er geimpft ist, so dass sich die Impfung nach und nach durchsetzt und zu einer Selbstverständlichkeit wird. Ein Impfzwang nutzt hier nichts. Klar ist aber auch, dass die Impfpflicht aktuell gar nicht wirksam ist, deswegen wäre es auch verkehrt, wenn die Debatte darüber alles andere überlagern würde.
Das Datenschutzargument allerdings ist anachronistisch; es hat bislang immer wieder dafür gesorgt, dass wir keine guten Public-Health-Daten haben. Es wäre, auch nach Corona, sehr gut, ein Impfregister zu haben. Dann wüssten wir viel mehr über die Gefährdungslage der Bevölkerung. Eine Impfdatenbank würde dabei helfen, Corona-Daten und Krankheitsverläufe etc. besser zu erfassen und medizinisches Wissen darüber zu vergrößern.
Unausgeschöpfte Möglichkeiten
Auch wenn ich persönlich für eine Impfpflicht bin, finde ich das politisch weiterhin problematisch. Das Beispiel Bremen oder das Impfangebot der Hamburger Poliklinik Veddel zeigen doch, dass die Impfquote höher ist, wenn man in die Quartiere reingeht, die Menschen aufsucht und direkt anspricht. Es sind noch nicht alle Mittel aufsuchender Gesundheitsarbeit ausgeschöpft.
Natürlich müsste es noch mehr Anstrengungen geben, aktiv auf Leute zuzugehen und Barrieren abzubauen. Da man so aber die notwendigen Zahlen realistisch nicht erreichen wird, bin ich für eine Impfpflicht. Auch Bremen hat keine Impfquote, die bereits hoch genug ist für eine Herdenimmunität. Im Vergleich zu Städten wie Hamburg und Berlin hat die Differenz der Impfquote abgenommen. Die Genoss*innen aus Thüringen haben argumentiert, dass sie all das, was in Bremen gemacht wurde, auch gemacht haben, aber es hat nicht geklappt. Es gibt dann eben doch mehrere Faktoren. Ich denke, dass Bremen aus soziologischen, historischen und sozusagen »geographischen« Gründen eine so hohe Impfquote hat und es falsch ist, diese Impfquote ausschließlich der sicherlich guten Arbeit der linken Gesundheitssenatorin zuzu- schreiben und zu glauben, dass man mit derselben Praxis das Problem überall gleichermaßen in den Griff bekommen kann. Ich bin für eine Impfpflicht, weil es mir schwer fällt, mir vorzustellen, wie man anders aus der Pandemie rauskommen könnte.
Umgang mit Impfgegnern
Die AfD und Querdenker*innen haben so viele Leute beeinflusst, die ohne Impfpflicht nicht mehr einzufangen sind. Mit Impfpflicht könnte sich ein Teil der Impfgegner*innen bei Wahrung des Gesichts impfen lassen. Die Zahl derer, die damit aus einem Dilemma herauskämen, wird für gar nicht so klein gehalten.
Kann man diesen Effekt nicht auch anders erreichen? Bietet nicht z.B. der neue Totimpfstoff Novavax schon die Möglichkeit eines gesichtswahrenden Positionswechsels? Und übt man nicht mit konsequenten 2/3G-Regeln schon genügend Druck aus? Es handelt sich dabei ja schließlich um einen faktischen Ausschluss vom sozialen und gesellschaftlichen Leben.
Aus meiner bisherigen Erfahrung mit Impfdiskussionen sagen die Wenigsten, dass höherer Druck sie überzeugen würde. Es kommen eher Argumente wie* Meine Freundin lässt sich auch nicht impfen, in meiner Familie ist keiner geimpft etc.. Es gibt aktuell auch keine gute Beschäftigung mit Gründen von Impfverweigerung. Ich denke, das Phänomen ist sehr vielschichtig. Es gibt auch Leute, die sich dem verweigern, weil die einzige Erfahrung, die sie mit dem Staat haben, ist, seit 20 Jahren von Ämtern gegängelt und sanktioniert zu werden. Mit der so entstandenen Verweigerungshaltung muss man anders umgehen als mit Ängsten oder ideologischen Argumentationen. Und die überzeugten Schwurbler*innen kann man weder mit 2G noch Impfpflicht unter Druck setzen.
Eine Impfpflicht wäre aber auch ein Weg, die Schwurbler*innen noch weiter an den Rand zu drängen.
Das würde aber auch die Polarisierung in der Gesellschaft weiter zuzuspitzen.
Die Politik eines Staates darf sich nicht an wenigen Prozent der Impfverweigerer*innen ausrichten. Angst vor deren Reaktion zu haben oder die mitzudenken, gibt ihnen ein unverhältnismäßiges Gewicht im Verhältnis zur Rolle des Staates seinen anderen Bürger*innen gegenüber. Als Gesetzgeber darf man sich nicht davon abhängig machen, was die Rechtsextremen oder Schwurbler denken und wie sie reagieren werden.
Ich bin gegen autoritäre Anrufungen des Staates. Ich muss aber zugeben, dass ich in Anbetracht der aktuell so polarisierten Debatte doch Zweifel habe, ob es für durchschlagende Erfolge durch gute Impfaufklärung nicht schon zu spät ist.
Das kann ich sehr gut nachvollziehen, aber das verweist doch darauf, dass der Ruf nach einem »harten« Vorgehen eher aus der eigenen Ohnmacht und der verfehlten staatlichen Informations- und Maßnahmenpolitik resultiert. Die Impfverweigerer*innen werden zur Projektionsfolie der angestauten Wut auf das eigene verpasste Leben. Das ist sehr nachvollziehbar, aber eben Ausdruck der Misere und nicht deren Lösung.
Sicher ist eine Impfpflicht ein harter Eingriff. Aber bei den Auswirkungen der Lockdowns auf die Kinder, für das kulturelle und gesellschaftliche Leben, die Zunahme psychischer Erkrankungen stellt sich natürlich schon irgendwann die Frage der Verhältnismäßigkeit dieser Schäden zu der Maßnahme einer Impfpflicht, mit der versucht wird, diese Einschränkungen zu begrenzen.
Da geht es um eine prinzipielle Auseinandersetzung. Es wurde ja schon oben darauf verwiesen, dass es nicht um das Ziel der Impfquote, sondern um die staatliche Anordnung und Durchsetzung der Impfpflicht geht, obwohl andere Mittel noch nicht ausgeschöpft sind. Der Staat kann sich also hinter der Debatte über die Impfpflicht verstecken.
Selbstbestimmungsrecht am eigenen Körper
Ich bin für das Impfen, aber gegen eine Impfpflicht. Jeder Mensch sollte das Recht haben, selbst über die Impfung zu bestimmen, das ist etwas Prinzipielles und schließt für mich an feministische Debatten um das Recht am eigenen Körper an. Ich halte es auch nicht für zielführend, so zu tun, als wäre die Impfung völlig harmlos. Wenn sie nichts im Körper machen würde, wäre sie ja sinnlos. Angst vor der Impfung ist nicht an sich und per se irrational oder unnachvollziehbar. Die Frage ist nur, welche Schlussfolgerung man daraus zieht und wie mit der Angst umgegangen wird* ob sie ideologisiert wird oder ob man sie bearbeiten und abbauen will, und sei es nur in einer Abwägung gegen das Risiko zu erkranken. Für Unsicherheiten ist Disziplinierung auf jeden Fall keine Lösung.
Es geht aber auch gesellschaftlich um die Suche nach dem milderen Mittel, um das angestrebte Ziel des Endes der Pandemie zu erreichen. Dieses mildere Mittel gäbe es mit einer inhaltlich, finanziell und personell gut ausgestatteten Impfkampagne und einer dezentralen und aufsuchenden Basisgesundheitsaufklärung.
Solidarität
Es heißt in der öffentlichen Debatte immer, sich impfen zu lassen, sei solidarisch. Aber was ist aktuell solidarisch? Warum ist es solidarisch, dass in Deutschland schon Menschen zum dritten Mal geimpft werden, während es weltweit immer noch Menschen in Gesundheitsberufen gibt, die noch nicht einmal ein erstes Mal geimpft sind? Hier ist ein Blick auf das Nord-Süd Verhältnis völlig abhanden gekommen.
Das stimmt. Andersrum gehört es zu unseren Berufen dazu, dass wir mit Schutzbefohlenen arbeiten und in diesem Sinne dafür verantwortlich sind, diese durch uns selbst nicht zu gefährden. Deswegen halte ich es für eine Frage von Solidarität, eine einrichtungsbezogene Impfpflicht umzusetzen.
Bei einer Impfpflicht ergeben sich auch Probleme für diejenigen, die ohnehin durch Registrierungsraster fallen. Ich impfe gerade papierlose Menschen* Wenn die kontrolliert werden, haben die zum Zertifikat keinen gültigen Pass. Dieses Problem müsste eine Impfpflicht auch so lösen, um bereits existierende Ausschlüsse nicht weiter zuzuspitzen. Deshalb leuchtet mir nur die arbeitsplatzbezogene Impfpflicht ein, aber nicht die allgemeine.
Arbeitsschutz
Meines Erachtens ist eine vom Arbeitgeber eingeforderte und kontrollierte Impfung ein Gebot des Arbeitsschutzes, da, wie hier bereits gesagt wurde, diese Berufsgruppen ein bedeutend höheres Risiko tragen, an Corona zu erkranken. Für mich ist das wie ein Helm auf einer Baustelle. Die Leute müssen nicht verstehen, warum sie einen Helm tragen müssen, sie sollen es tun, weil er sie schützt und um ihr Unfallrisiko zu reduzieren. Arbeitgeber drücken sich auch an anderer Stelle um so etwas, auch da argumentieren wir, dass das nicht akzeptabel ist und die Fürsorgeverpflichtung umgesetzt werden muss.
Aber wenn man nicht auf der Baustelle ist, trägt man keinen Helm. Also auch Bauarbeiter*innen tragen zu Hause keinen Helm mehr. Ist der Helm dann nicht eigentlich eher eine Metapher für eine konsequente 2G-Regel? Also, wenn man sich in Bereichen bewegt, wo man mit vielen Menschen zu tun hat, muss man sich über 2G schützen, aber ansonsten nicht. Es gibt etliche sozial- und arbeitsrechtliche Probleme, die eine Impfpflicht zur Folge hätte. Wenn jemand dem nicht nachkommt, kann er gekündigt werden? Dürfte die Person Arbeitslosengeld oder Ersatzleistungen beziehen? Was ist mit Krankengeld? Juristisch ist das völlig unklar und die Gerichte würden mit einer Welle von Klärungsfällen konfrontiert werden. Im Gesundheitsbereich ist die Impfpflicht ab März 2022 da. Wer sich nicht impfen lässt, wird dann ohne Bezahlung freigestellt werden. Wir werden dann aber recht wahrscheinlich ab März auch weniger Pflegekräfte haben.
Problem des Normalzustandes
Zu argumentieren, dass »wir die Überlastung des Gesundheitswesens verhindern müssen«, ist zynisch und für mich kein Argument. Wieso wird denn nicht darüber diskutiert, die Organisation des Gesundheitswesens grundsätzlich zu verändern? Die Ökonomisierung des Gesundheitssystems und deren Folgen sind aktuell viel gefährlicher für die Versorgung der Bevölkerung als die Tatsache, dass höchstens 80 Prozent der Bevölkerung geimpft sind.
Wäre hier nicht die richtige Forderung, das eine zu tun ohne das andere zu lassen? Wenn das Gesundheitssystem überfordert wird, nehmen Menschen Schaden, die sich haben impfen lassen, aber wegen anderer Erkrankungen Behandlung oder Pflege brauchen. Ist das fair? Eine Impf- pflicht könnte dafür sorgen, dass Versorgungskapazitäten nicht durch Ungeimpfte blockiert werden.
In diesem Zusammenhang sollte auch darauf hingewiesen werden, dass viele Betten auf Intensivstationen wegen Personalmangel gesperrt sind. Selbst die bereits für sich ungenügenden gesetzlichen Regelungen zur Personaluntergrenze auf bestimmten Stationen wurde durch die Corona Ausnahmesituation ausgesetzt und können nun unterschritten werden. Statt spektakuläre und öffentlich inszenierte Verlegungsflüge durch die Bundeswehröffentlich darzustellen, die nebenbei wirklich Unsummen kosten, sollte sich die Politik Gedanken darüber machen, wie diese Betten wieder aktiviert werden können. Es müsste eigentlich gefordert werden, Gelder umzuverteilen und das Gesundheitssystem komplett zu reorganisieren. Wenn eine allgemeine Impfpflicht politisch problematisch ist, wieso sollte man dann für eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen sein? Die Probleme, die der Staat nicht in den Griff bekommt, landen dann wieder bei uns, insbesondere bei der Pflege.
Es gibt auch eine große Diskrepanz zwischen den Einkommen durch Impfung bei den Ärzt*innen und bei den Pflegekräften. Ärzt*innen haben ohne große Diskussion eine Aufstockung der Impfvergütung von 20 auf 28 Euro, bzw. 36 Euro am Wochenende, erhalten, also eine Erhöhung um 40 Prozent, Impfärzt*innen erhalten 130 Euro pro Stunde, während das Pflegepersonal für 5 Prozent mehr Lohn streiken musste und immer noch auf eine einmalige Zulage von 3.000 Euro warten muss. Der ärztliche Zuschlag mag berechtigt sein, dann aber bitte auch für die Pflege. Hier wird die ganze strukturelle Widersprüchlichkeit des Systems deutlich. Gegen eine Impfpflicht spricht meines Erachtens auch, dass diese in der Konsequenz individualisierend wirken könnte in dem Sinn, dass der Staat sich dann aus der Verantwortung zieht, aktive Angebote zu machen und zu finanzieren. Gibt es eine Impfpflicht, ist der Ball irgendwie bei den einzelnen Bürger*innen und der Staat muss sich keine Mühe mehr geben, die hier schon ausreichend beschriebenen Defizite der eigenen Maßnahmen, Aufklärung, Informationspolitik etc. zu überdenken oder auszuschöpfen.
Impfregister / Bürokratisierung / Datenschutz
Um noch mal auf die Datenschutzdiskussion von vorhin zurück zu kommen. Ein Impfregister würde uns viele Daten geben über die Wirkung der Impfung für die Public-Health-Forschung. Hier immer mit dem Datenschutz zu argumentieren, ist nicht richtig. Eine Auskunftspflicht ist in bestimmten Bereichen unabdingbar, um die vulnerablen Gruppen zu schützen. Die Pandemie wird lange nicht zu Ende sein und wir brauchen Daten, wer geimpft ist. Für mich wäre ein Register die Voraussetzung für die Beurteilung der Notwendigkeit einer Impfpflicht.
Mir ist unklar, wie das zeitlich alles gehen soll. Ich würde davon ausgehen, dass es mindestens ein Jahr dauern würde, bis man ein Impfregister einrichtet und dann auf dieser Basis eine Impfpflicht einführt; dann sprechen wir locker über 2023.
Die Idee des Impfregisters finde ich sehr überzeugend. Mein Fokus beim Impfregister war nicht wissenschaftlich, sondern praktisch auf der Basis des Wissens, wo Leute nicht geimpft sind, diese direkt und konkret ansprechen zu können. Es ist technisch nicht zwingend, dass die Daten missbraucht werden. Ein Register hat auch nicht notwendig einen Impfzwang zur Folge. Wenn wir soziale Determinanten ernst nehmen, müssen wir darüber nachdenken, wie man an soziale Gruppen herankommt, die wir sonst nicht erreichen. Ich würde es für sinnvoll halten, wenn der Staat die Menschen anschreiben und auf sie zugehen müsste, ihnen ein Impfangebot zu machen, das würde schon mal Hürden reduzieren.
Ein Impfregister als Forderung, um epidemiologische Daten zu gewinnen, halte ich für eine Ausrede. Dass es keine Public-Health-Daten gibt, liegt an den mangelnden wissenschaftlichen Strukturen und daran, dass eine solche Forschung nicht finanziert wird, weil es kein Interesse daran gibt. Einfach nach einem Impfregister zu rufen und zu meinen, dass man dann epidemiologische Forschung und Aussagen machen könnte, ist wissenschaftlich völlig verfehlt. Das Impfregister ist im Moment lediglich ein Instrument, die Impfpflicht durchzusetzen, kein epidemiologisches Forschungsinstrument.
Ein Impfregister würde auch nie die Kopplung an Informationen enthalten, die man dafür bräuchte, einzelne Bevölkerungsgruppen in einer sozial- und gesellschaftspolitischen Public- Health-Praxis adressieren zu können.