Medizinische Versorgung von Menschen in Haft
Broschüre herausgegeben von Solidarisches Gesundheitswesen e.V. – Download hier
Aus der Einleitung
Wer in der Bundesrepublik rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt oder zu einer Ersatzfreiheitsstrafe gezwungen wird, landet in der Regel für bestimmte Zeit in einer Justizvollzugsanstalt; im Falle lebenslanger Haftstrafen, von Sicherungsverwahrung oder Maßregelvollzug sogar für unbestimmte Zeit. Das Statistische Bundesamt zählte 2020 deutschlandweit 46.054 inhaftierte und verwahrte Personen in Justizvollzugsanstalten.(1) Der Zweck der Freiheitsstrafe ist in diesem Rechtsstaat laut Gesetzgebung die Resozialisierung – nicht, der inhaftierten Person Leid zuzufügen. In den jeweiligen Strafvollzugsgesetzen der Länder wird der Anspruch formuliert, dass inhaftierte Menschen durch die Haftstrafe zu einem Leben in Freiheit mit sozialer Verantwortung und ohne zukünftige Straftaten befähigt werden sollen. Dabei sollen die Lebensverhältnisse im Vollzug möglichst denen in Freiheit angeglichen werden und schädigende Folgen des Freiheitsentzuges vermieden werden. Die medizinische Versorgung in Haft soll derjenigen der in Freiheit bei der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) Versicherten entsprechen – bis auf einige Einschränkungen wie den Verzicht auf freie Arztwahl, die aber draußen auch eher formal gilt und real oft durch verschiedene Bedingungen eingeschränkt ist.
Mit diesen Bestimmungen sind die Kriterien für eine – zunächst systemimmanente – Beurteilung und Kritik der medizinischen Versorgung von inhaftierten Menschen gegeben. Wir können diesen Anspruch mit der Wirklichkeit abgleichen: Ist die medizinische Versorgung derjenigen außerhalb der Gefängnisse gleichwertig? Erhalten also z.B. alle Menschen mit therapiebedürftiger HCV-Infektion eine Behandlung? Sind die inhaftierten Menschen zahnmedizinisch so gut versorgt wie die Menschen draußen? Wird sich bemüht, psychische Probleme zu erkennen und werden diese ernst genommen und therapiert?
Nicht zu vergessen jedoch ist, dass die Fragen zur medizinischen Versorgung sich in einem widersprüchlichen Verhältnis befinden. Selbst mit den besten Gesundheitsleistungen ließe sich nicht das an sich Gesundheitsschädliche eines Freiheitsentzuges aufheben: psychosoziale Belastungen und Isolation, Bewegungsmangel und ungesundes Essen sind Probleme, die nur teilweise durch strukturelle Verbesserungen in Haftanstalten gelöst werden können. Diese Widersprüchlichkeit von Strafe und Resozialisierung erstreckt sich über die medizinische Versorgung hinaus: Sind die Unterbringung, das Personal, die Arbeits- oder Beschäftigungsbedingungen und auch (Weiter-) Bildungsmöglichkeiten für die inhaftierten Personen, sind die sozialen Verhältnisse in deutschen Gefängnissen so, dass sie dem Ziel der Resozialisierung entsprechen? Kann es der Resozialisierung dienen, wenn inhaftierte Menschen einerseits in der Mehrheit der Bundesländer immer noch einer Arbeitspflicht unterliegen und diese auch 40 Stunden die Woche ableisten, dafür aber weit unter dem Mindestlohn bezahlt wer-den und diese Arbeitszeiten nicht in die Rentenversicherung eingehen?
Muss man nicht grundsätzlicher fragen: Ist eine Unterbringung in Gefängniszellen überhaupt dem Resozialisierungsziel zuträglich oder widerspricht sie diesem? Welche Folgerungen wären dann für eine Gefängniskritik zu stellen? Wie wäre dann mit Menschen umzugehen, die für die Anderen und die Gesellschaft gefährlich sind? Die Abschaffung der Gefängnisse zu fordern, wie es so genannte Abolitionist*innen tun, schien auch uns auf den ersten Blick abstrakt, zumal wenn man nicht die gesellschaftlichen Bedingungen diskutiert und ändert, unter denen dies sinnvoll möglich sein könnte. Der Jurist und langjährige JVA-Leiter Thomas Galli und viele Autor*innen, auf die er verweist, lehren uns aber, dass diese maximalistische Haltung selbst abstrakt ist und dass es sehr wohl inner-halb dieser Gesellschaft jetzt und hier möglich wäre, einen Großteil der Gefängnisse abzuschaffen und mit Kriminalität anders umzugehen, so dass die Geschädigten, die Gesellschaft, aber auch die straffällig gewordenen Menschen in Haft einen Nutzen davon hätten (mehr dazu unter Abschnitt IV).(2)
Wir können also bei einer Diskussion (und Kritik) der medizinischen Versorgung inhaftierter Menschen nicht einfach alle Rahmenbedingungen akzeptieren und unseren Blick einschränken auf die „bloße Medizin“. Eine bloß immanente Kritik des Gefängnisses im Sinne des Abgleichs von Anspruch und Wirklichkeit reicht für eine Beurteilung nicht aus. Sie lässt entscheidende Fragen unberührt: Wer kommt überhaupt ins Gefängnis und für welche Delikte? Aus welcher gesellschaftlichen Situation landen Menschen im Gefängnis und müssen „resozialisiert“ werden? Wir müssen auch fragen: Warum wurden diese Menschen vorher „entsozialisiert“? Wir gehen davon aus, dass sie daran nicht alleine und individuell schuld sind, sondern dass sie auch durch die gesellschaftlichen Bedingungen dort gelandet sind.(3)
Mit den Forderungen für eine bessere medizinische Versorgung von inhaftierten Menschen sind wir als demokratische Ärzt*innen und Ärzte also gezwungen, grundsätzliche gesellschaftliche Fragen anzusprechen.
Die folgende Analyse und unsere Forderungen sind aus der Auseinandersetzung thematisch Interessierter und politisch Aktiver entstanden. Selbst wenn für uns die Situation der inhaftierten Menschen zentraler Bezugspunkt der Analyse war, sind die Betroffenen selber nicht an der Ausarbeitung beteiligt gewesen. Dies gilt es zu berücksichtigen und in der weiteren Arbeit nachzuholen. Die Analyse ist das Ergebnis einer ersten Auseinandersetzung mit dem Thema der medizinischen Versorgung inhaftierter Personen und offen für eine weitere Ausarbeitung und Anregungen.
Hinweise
- Stand 31.03.2020, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/72216/umfrage/gefangene-und-verwahrte-in-justizvollzugsanstalten-nach-bundeslaendern/#statisticContainer, letzter Zugang 19.05.2021
- Vgl. Thomas Galli: Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen, Hamburg 2020
- Vgl. KNAS Initiative: Armut und Strafe. Über die Produktion von Delinquenzmilieus und das Gefängnis als Armenhaus, in: Rehzi Malzahn (Hrsg.): Strafe und Gefängnis, Theorie, Kritik, Alternativen. Eine Einführung, Stuttgart 2018, S. 65ff.