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Abgedriftet »Ganzheitliche Medizin« und die Folgen für die kritische Medizin

von Nadja Rakowitz

Dieser Text ist die ausgearbeitete Fassung eines Vortrags unter dem gleichen Titel, der beim Gesundheitspolitischen Forum von vdää* und Solidarisches Gesundheitswesen gehalten wurde. Unser Panel zur »Kritischen Medizin seit 1973« war inhaltlich und dramaturgisch eingebettet zwischen eine Veranstaltung über den Marburger Kongress von 1973 zum Thema »Medizin und gesellschaftlicher Fortschritt« und ein Panel zu aktuellen Projekten der Kritischen Medizin. Der Text konzentriert sich deshalb auf die Entwicklung in den 1980er Jahren und auf ein paar methodische Aspekte und deren politische Implikationen.

Hier geht es darum, wie aus der Fragestellung »Medizin und gesellschaftlicher Fortschritt« in der dann sich konstituierenden Gesundheitsbewegung ein großer Teil der Bewegung abgedriftet ist in unpolitische, individualistische, teilweise esoterische, mystische Vorstellungen von Gesundheit. Viele Menschen in dieser Bewegung hantierten mit dem Begriff der »Ganzheitlichkeit«, der so präsent war, dass es einige Texte aus dieser Zeit gibt, die sich mit der Ganzheitlichkeit in der Medizin als Chiffre für ihr Abdriften beschäftigen. Ich beziehe mich hier vorrangig auf das  sehr empfehlenswerte Buch von Renate Jäckle: »Gegen den Mythos ganzheitliche Medizin« von 1985[1] und den ebenso lesenswerten Aufsatz von Hagen Kühn: »Glanzvolle Ohnmacht. Zum politischen Gehalt des Ganzheitlichkeitsanspruchs in der Medizin« von 1989[2] sowie als Grundlage auf Uli Deppes Standardwerk »Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar«[3].

Renate Jäckle beschreibt den ersten Gesundheitstag im Mai 1980 in Berlin. Dieser ist auch entstanden aus der linken kritischen Gesundheitsbewegung, die sich nach dem Marburger Kongress gebildet hat. Initiiert wurde der Gesundheitstag als Gegenveranstaltung zum 83. Deutschen Ärztetag, der ebenfalls in Berlin tagte. Dieser erste von der Opposition organisierte Gesundheitstag war mit über 10.000 Teilnehmer*innen (Deppe: S. 202) sehr gut besucht. Das Thema war: »Medizin und Nationalsozialismus, tabuisierte Vergangenheit, ungebrochene Tradition?« und als Reaktion auf das 35-jährige Schweigen der organisierten deutschen Ärzteschaft zur Nazivergangenheit der deutschen Ärzt*innen gedacht. Um einen Eindruck zu bekommen, wie dort diskutiert wurde, zitiere ich Karl-Heinz Roths Rede vom Eröffnungspodium: »Für die Diskussion ist jedoch die Frage der Alternative zum Heute und zum Gestern ein konkretes Problem. Ich will einige Punkte nennen, die ich für wichtig halte. Erstens: Auflösung der Ärztekammer; zweitens: Auflösung der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands, wobei das gesamte Kostensystem für die niedergelassene Kassenärzte ins Wanken gerät; drittens: Auflösung aller staatlichen Strukturen des Gesundheitswesens, die 1934 eingeführt wurden, von den Gesundheitsämtern bis zu den Landesversicherungsanstalten. Und dann kommt – ich sage das bewußt so provokativ, um einmal klar zu machen, was es bedeutet, wenn wir hier über den Nationalsozialismus sprechen, und was es dann bedeutet, konsequent auch die Machtstrukturen anzugehen – die Frage der Auflösung aller Zentralisierungen im Gesundheitswesen, z.B. die Auflösung aller psychiatrischen Landesanstalten. Das alles ist Voraussetzung für eine positive Alternative zum heutigen Gesundheitswesen.« Sepp Graessner sieht ergänzend in dem 1980 vom Ärztetag verabschiedeten Positionspapier, das eine Kostenbeteiligung der Patient*innen fordert, eine Kontinuität zur NS-Medizin. (Jäckle: S. 34f.)

Die Forderung nach Kostenbeteiligung der Patient*innen ist inzwischen bei einigen wenigen Leistungen umgesetzt und sie fällt Ärzt*innen und vor allem der organisierten Ärzt*innenschaft bis heute immer mal wieder als »Lösung« ein. Wir kritisieren das entsprechend immer wieder, aber diese Linie ziehen wir nicht. So war der Duktus und die inhaltliche Beschreibung der Lage 1980 in der kritischen Gesundheitsbewegung. Während 1980 noch  ein Manifest der politischen Opposition gegen die herrschende Standes- und Gesundheitspolitik veröffentlicht wurde und dies vom Gegner auch so zur Kenntnis genommen wurde, waren die Atmosphäre und die Inhalte beim nächsten Gesundheitstag in Hamburg 1981 schon weitgehend ins Unpolitische gekippt: Das Programm bestand aus einem Sammelsurium von alternativen Heilkonzepten, von Selbstdarstellungen von Selbsthilfegruppen aller möglichen Couleur, zu einem »Jahrmarkt der Möglichkeiten, auf dem Kleinhändler ihre Ware feilboten«. Diskussionen zu »großen Fragen« der Gesundheitspolitik, also explizit politische Diskussionen und Versuche einiger Unermüdlicher, Standort und Perspektiven der Gesundheitsbewegung zu bestimmen, seien »als langweilig und nervig empfunden worden«, so zitiert Jäckle A. Cassebaum (Jäckle: S. 36).

Vorausgegangen war diesem 2. Gesundheitstag die Veröffentlichung eines symptomatischen Buchs, so Renate Jäckle: »Gemeinsam sind wir stärker, Selbsthilfegruppen und Gesundheit« von Ilona Kickbusch und Alf Trojan. Dort schreiben die Beiden: »… die vielfältigen Selbsthilfegruppen haben mit dieser Arbeit begonnen, ohne daß sie die Anleitung durch bewußte Gesellschaftsveränderer gebraucht hätten, sie ließen sich schlicht etwas einfallen und handelten« (zitiert nach Jäckle: S. 35 f.). Jäckle interpretiert das als eine Trennung von Theorie und Praxis, die der unreflektierten Praxis, dem »einfachen Anfangen« die Priorität gibt. Dass dies die gekippte Stimmung zum Ausdruck bringt, macht sie auch daran fest, die »Selbstdarstellungen alternativer Heilkonzepte schon rein zahlenmäßig in einer erdrückenden Übermacht« gewesen sind (Jäckle: S. 36)

Ich würde dies als eine Form von Theoriefeindlichkeit ansehen, die auch in unseren heutigen Projekten bisweilen mal aufschimmert, wenn auch nicht in dieser Mächtigkeit, wie das bei den Gesundheitstagen der Fall war. Heute haben solche Positionen andere Begriffe, einen anderen »Sound«: Als eines der Poliklinikprojekte einen Wellness- und Schminkworkshop für FLINTA anbot und ich kritisierte, dass man damit ein Frauenbild wie zu Zeiten meiner Großmutter reproduziere, und vorschlug, doch etwas intellektuelleres anzubieten, wurde mir geantwortet, dass man von dieser Art »Bildungsklassismus« wegkommen wolle. Bildung wird hier also nicht als Chance auf Erkenntnis und damit Kritikfähigkeit angesehen, sondern als Moment »klassistischer Diskriminierung« – und zwar unter uns solidarisch Verbundenen. Ich bin froh, dass das eher eine Ausnahmeerfahrung ist und ich im Rahmen des vdää* viel öfter das Gegenteil erfahre, nämlich einen großen Wissensdurst, den wir gemeinsam in verschiedenen AK zu stillen versuchen.

Die Gesundheitsbewegung hatte schon zwischen 1973 und 1980 Tendenzen, wie Uli Deppe das ausdrückt, zu »Flucht, zur Verweigerung und Ablehnung von professioneller Medizin und mit ihrer Konzentration auf Chemotherapie, Organmedizin«, die gemündet sei in einen »Prozeß der Suche nach alternativen Heilmethoden, die ›ganzheitlich‹ und ›naturgemäß‹ mit Krankheit umgehen. Dies führt zu einer starken öffentlichen Aufwertung volks- und naturheilkundlicher Methoden sowie der Homöopathie, die von der Schulmedizin eher geringgeschätzt werden, und zu mehr oder minder fragwürdigen intuitiven suggestiven und teilweise sogar mystisch-religiös gefärbten Heil- und Behandlungsmethoden, die auf einem wuchernden Markt der Möglichkeiten feilgeboten werden.« (Deppe: S. 169f.) Bei den Gesundheitstagen in Hamburg und dann auch in Bremen 1984 trat dies offen zutage. (Jäckle: S. 37).

Hagen Kühn beschreibt diese Entwicklung so: »Der Irrationalismus ist nicht ausschließlich die Domäne des deutsch­reaktionären Lagers. Die seit Mitte der siebziger Jahre anwachsende wirtschaftliche, soziale und ökologische Unsicherheit wurde und wird vom ideologischen Mainstream mit dem liberalen Gestus des ›anything goes‹ aufgegriffen. Postmoderne Beliebigkeit (›Pluralität‹), von der allerdings die Sphären von Kapital und Macht ausgenommen sind, verdrängt Kausalität und Vernunft … Die realen Widersprüche, unter deren Auswirkungen man leidet, werden ›geistig‹ überwunden, politische Praxis wird – wenn überhaupt – zum symbolischen Aktionismus. New Age-Denken mit seiner harmonieverheißenden Terminologie, Begriffe wie ›Ganzheitlichkeit‹, ›Natur‹ (ausgestattet mit den Zügen einer ›freundlichen Muttergottheit‹, Bopp 1987) mischen sich oft sonderbar mit irrationalem Subjektivismus und rigorosem Allgemeinverbindlichkeitsanspruch.« (Kühn: S. 112) Der gesundheitliche Ganzheitlichkeitsanspruch sei besonders heftig in diesen Konflikt verwickelt.

Uli Deppe macht noch auf einen anderen Aspekt aufmerksam: »Die Hinwendung zu einer solchen ›Außenseitermedizin‹ ist keineswegs neu, sie gehört zum traditionellen Alltag der praktischen Medizin. In ihr kommt zum Ausdruck, daß die Bedürfnisse der Betroffenen nur unzureichend befriedigt werden können, was einerseits durch die bestehenden Formen der herrschenden Medizin bedingt ist, andererseits aber auch durch Erwartungen und Ansprüche an eine Krankheitslehre, die die Möglichkeiten von Medizin weit überschätzen und damit an der Medikalisierung gesellschaftlicher Sachverhalte unkritisch Vorschub leisten.« (Deppe: S. 169)

Will man den Ansatz von Ganzheitlichkeit wohlwollend betrachten, dann ist er zunächst als Kategorie der Negation zu sehen: Es ist eine Reaktion auf die Industrialisierung der Medizin, auf die Objektivierung, also auf das Den-Menschen-zum-Objekt-Machen, auf die kleinteilige Aufteilung des Menschen in verschiedene Organe, also auf eine vermeintlich durchrationalisierte Medizin, die immer wieder seit dem späten 19. Jahrhundert und damals im Zusammenhang mit der Homöopathie als »Schulmedizin« (oft synonym gebraucht mit »Staatsmedizin«) (Jütte: S. 34) denunziert wird. Renate Jäckle kritisiert wiederum diese Kritik an der »Krise der Schulmedizin«, da sie Inhalt und Form verwechsle: »Hierbei handelt es sich allerdings weniger um eine Krise ›der‹ Schulmedizin sondern eher um eine Krise des Gesellschaftssystems, in welchem Schulmedizin praktiziert wird… ›Die‹ Apparatemedizin ist eine Medizin, die nach den gleichen Mechanismen funktionieren muß, wie alles in der Gesellschaft. Oft sind es nicht ›die‹ Apparate, die die Medizin unmenschlich machen, sondern die Art und Weise, wie sie eingesetzt werden.« (Jäckle: S. 59) Und Hagen Kühn verallgemeinert: »Nicht die technische und kapitalökonomische Instrumentalisierung der Vernunft, sondern Rationalität schlechthin wird für die Krisen verantwortlich gemacht«. (Kühn: S. 112)

Damit will ich mich noch kurz Frage zuwenden, welches »Ganze« der jeweiligen Ganzheitlichkeit zugrunde liegt, welche theoretischen/politischen Voraussetzungen und Implikationen das hat und in welcher Tradition das steht. Die wohl am meisten verbreitete Variante von ganzheitlichen Ansätzen ist individualistisch; dabei gibt es Rationales und Irrationales. Beide unterstellen als das Ganze bloß das Individuum – und zwar ein individualistisch verkürztes, aber immer noch rational verstandenes Individuum. Mit diesen zieht man sich in – sehr oft nicht von der Gesetzlichen Krankenkasse bezahlte – Nischen des Gesundheitssystems zurück, macht Naturheilkunde oder arbeitet mit ganzheitlichen sprechenden Ansätzen, die zum Teil auch psychosomatische sind. Darunter sicher viele Sinnvolles, aber so kritisieren es zumindest Jäckle, Deppe und Kühn, ohne politische Perspektive auf Gesellschaftsveränderung, sondern mit ausschließlichem Blick auf das Individuum. Ein aktuelles, sicher typisches Beispiel begegnete uns bei unserer Redaktionsarbeit: Uns hatte eine Heilpraktikerin für Psychotherapie mit intersektionalem Ansatz einen Text angeboten, in dem sie behauptete, wem es – dank ihrer Therapie – gelinge zu verstehen, dass »Machtstrukturen aus strukturellen Gründen (und eben nicht aus persönlichen oder individuellen) wirken«, habe »eine reelle Chance auf ein gesundes Leben in einem krankmachenden System.« Das stellt unser Gesundheitsverständnis geradezu auf den Kopf: Das Wissen um die Machtstrukturen in einem krankmachenden System mag dazu beitragen, besser mit dem eigenen Leid umgehen zu können. Damit ist man aber noch lange nicht gesund. Der ausschließlich individualisierende Zugang verdeckt letztendlich den Blick auf die krankmachenden sozialen Strukturen und ihre Bekämpfung.

Das liegt meines Erachtens nah bei Mediziner*innen, deren Ausbildung und ganze Praxis darauf ausgerichtet ist, sich mit dem Individuum zu beschäftigen und nicht mit der Gesellschaft. Von daher kommt mutmaßlich auch eine Affinität zu individualistischen Lösungsstrategien. Spätestens in der Corona-Pandemie wurde noch mal augenscheinlich, wie wenig Ahnung nicht explizit epidemiologisch ausgebildete Ärzt*innen von Gesellschaft und Epidemiologie haben – was viele aber nicht daran hinderte, sich öffentlich, aber doch relativ kenntnislos zu äußern.[4]

Eine andere Variante der individualistischen Ganzheitlichkeit diskutiert das zugrunde liegende Individuum vermeintlich »in all seinen Dimensionen«, womit dann auch z.B. ein »kosmische«, »übersinnliche«, mystische, spirituelle etc. Dimensionen einbezogen werden – woher immer sie etwas über diese »wissen« können. Zu solchen Ansätzen zähle ich explizit auch anthroposophische und homöopathische Ansätze, die einerseits metaphysische Grundlagen haben und sich andererseits strikt auf das Individuum beziehen – und meistens privat abgerechnet werden und damit auch nur bestimmte gesellschaftliche Schichten ansprechen. Diese irrationalen Formen von vermeintlicher Analyse, Diagnose und Therapie von Individuen haben auch wegen ihrer Irrationalität eine potentielle Offenheit hin zu rechten Medizin- bzw. Heilsvorstellungen. Das haben wir auch in der Corona-Pandemie unter manchen Querdenker*innen gesehen, wobei ich nicht sagen will, dass alle diese Querdenker*innen politisch rechts waren. Unsere historische Erfahrung zeigt aber, dass diese Art Ganzheitsvorstellungen schon öfter politisch nach rechts gekippt sind.

Denkt man Ganzheitlichkeit von rechts, dann liegt dem eine nicht-individualistische bzw. nicht-liberale Vorstellung zugrunde. Das Individuum ist eingebettet in ein größeres Ganzes, das in Deutschland in der Regel als völkisch konzipiertes »Volk«[5] unterstellt ist, also eine rassistische Vorstellung, oft gepaart mit einem ideologischen Begriff von Natur. Wie schützenswert das einzelne Individuum – zumal, wenn es nicht zum »Volk« gezählt wird – dann noch ist, hat sich auf mörderische Weise historisch im NS gezeigt[6]. Wie wenig Hilfe man von den Ärzt*innen (oder auch von den Heilpraktiker*innen) erwarten konnte, ebenfalls. Deren Verstrickung mit dem Nationalsozialismus ist auch dank der Bemühungen von Vertreter*innen der kritischen Medizin inzwischen gut aber noch nicht ausreichend aufgearbeitet worden. Das ist inzwischen auch Konsens in Kammern und KVen – noch. Die Frage, warum wir in vermeintlichen Krisensituationen gerade unter Mediziner*innen immer wieder die Tendenz sehen, für rechte Vorstellungen einschließlich Antisemitismus empfänglich zu sein, müsste – auch angesichts aktueller Entwicklungen – weiter und genauer erforscht und diskutiert werden.[7]

Schlüsse

Renate Jäckle greift am Schluss ihres Buches das Stichwort Ganzheit noch mal auf, wie es Fritjof Capra, in den 80ern der große Vordenker für das Ganze in seinem Bestseller »Wendezeit« diskutiert: »alle Phänomene – physikalische, biologische, psychische, gesellschaftliche und kulturelle – (sind) grundsätzlich miteinander verbunden und voneinander abhängig (…). Wir sind untrennbare Teile des Kosmos, in den wir eingebettet sind.« In der »Materie, in den Pflanzen, in den Tieren und in mir«, so referiert Jäckle Capra, wirke »derselbe Geist«. Dazu schreibt sie weiter: »Alles hängt mit allem zusammen, und zuletzt gibt es keine Mächtigen und keine Ohnmächtigen mehr, sondern nur noch ›die‹ Menschheit als Ganzes, eingebettet in den Kosmos. Diese Sicht der Wirklichkeit führt zur Entpolitisierung der Menschen; jeder ist mit jedem und allem vernetzt, und schließlich sind alle irgendwie gleich schuldig oder unschuldig. Der Arbeitslose und Herr Bangemann; der Sozialhilfeempfänger und der Millionär; der Schichtarbeiter und der Unternehmer; diejenigen, die die Macht haben, um die Bombe bauen zu lassen, und diejenigen, über deren Köpfen sie abgeworfen wird. Alle sind gleichermaßen verantwortlich und jegliche Unterschiede sind aufgehoben.« (Jäckle: S. 171)

Ähnlich wie oft in heutigen Debatten, z.B. zum menschengemachten Klimawandel, geht hier die Herrschaftsstruktur der Gesellschaft, ihr Klassencharakter tendenziell theoretisch verloren, der geschichtslose »Mensch« scheint das Problem. Die zugrunde liegende kapitalistische Produktionsweise gerät aus dem Blick. Renate Jäckle schreibt weiter: »Es ist deshalb wichtig, wieder ein bißchen Klarheit und Theorie, um nicht zu sagen Vernunft, in all die vernetzten Strukturen zu bringen. Das Leben in der BRD (…) ist Mitte der achtziger Jahre für Millionen Menschen unbarmherzig und sehr hart, und alle Zeichen sprechen dafür, daß sich die Situation rapide verschlechtern wird. In einer unbarmherzigen Gesellschaft läßt sich aber ›ganzheitliche‹ Alternativmedizin allenfalls in Nischen betreiben. Wer eine andere, bessere Medizin für viele Menschen will, der muß versuchen (…) die Gesellschaft zu verändern. Er muß die machtpolitischen und wirtschaftlichen Strukturen in Frage stellen, den ungleich verteilten Reichtum, die Ausbeutung der Menschen, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, und die schließlich ausgelaugt und verschlissen von einer Minirente leben. Hier muß angesetzt werden«. (Jäckle: S. 171f.)

Hagen Kühn schlägt aus der gleichen Perspektive vor, Ganzheitlichkeit anders zu betrachten: Entscheidend sei die Frage, wie der Begriff der Ganzheitlichkeit »zur ›materiellen Gewalt‹ wird, ob die ihm zugrunde liegenden Widersprüche nach ihrer produktiven oder destruktiven Seite hin überwunden werden. Fördert also die Diskussion um Ganzheitlichkeit die Erkenntnis-, Handlungs- und Politikfähigkeit der Menschen, lernen sie somit, diesen Anspruch mit ihren gesellschaftlichen Interessen in Zusammenhang zu bringen und zu realisieren oder dient das ›Zauberwort Ganzheitlichkeit‹ (Jäckle) letztlich doch dazu, die mit Gesundheit, Krankheit und Tod verbundenen Wünsche und Ängste ursprungsmythisch (auf Blut, Natur, Rasse, Geschlecht usw. bezogen) zu verklären und herrschaftlich zu integrieren?« (Kühn: S. 112)

Zu lernen sei von Marx, »daß die Medizin nicht zuletzt Ausdruck und Bestandteil des Herrschaftsgefüges der Klassengesellschaft und ihrer Machtkonstellationen ist und kein isoliertes Verhältnis zwischen ›Professional‹ und Patient. Die Subjektivität des Kranken jedoch erfordert – im wissenschaftlichen wie im diagnostischen und therapeutischen Prozeß – eine darüber hinausgehende Selbstreflexion, in der berücksichtigt wird, daß die Position der Ärzte im Herrschaftsgefüge sich nicht nur im Status, in der (delegierten) Macht über den Patienten und im Einkommen, sondern auch in Persönlichkeit und Habitus niederschlägt … Der Ganzheitlichkeitsanspruch ist also um ein Linsengericht nicht einzulösen. Die Subjektivität des Kranken äußert sich dem Arzt nur in gehörigem Abstand von Herrschaft und Verfügbarkeit. Wie aber sollte dieser Abstand anders herstellbar sein als durch so­zia­le Opposition?« (Kühn: S. 116)

In der Konsequenz heißt das, alternative gute Medizin, »ganzheitliche« Medizin kann nur praktisch werden, wenn man im Blick hat, die ganzen Verhältnisse zu ändern.

Zum Schluss macht Hagen Kühn noch einen diskussionswürdigen Seitenhieb auf den Marburger Kongress. Seine These ist, dass es in den 70er Jahren im Umfeld des Marburger Kongress und in den Folgen sehr gute objektive politökonomische Analysen des Gesundheitswesens und der Zusammenhänge von Ökonomie, Politik und Gesundheit gab usw. Doch zugleich sei teilweise vergessen worden, die Patient*innen als Subjekte zu diskutieren und auch die eigene Subjekthaftigkeit als Ärzt*innen eingebettet zu sehen in den kapitalistischen Zusammenhang. Dies habe mit zur zur subjektivistischen Wende beigetragen: »Da sich nun aber die gesundheitspolitische Linke nicht hinreichend und gründlich genug der subjektiven Seite der Krankheit und damit dem Kranken als Subjekt zugewandt hatte, war sie außerstande, der Subjektivierung von Krankheit und dem Narzißmus der ›Therapie-Gesellschaft‹ (Kursbuch 82, 1985) argumentativ entgegenzuwirken. Nachdem die ›objektive‹ Seite der Verhältnisse seit Ende der 70er Jahre verfestigt und versteinert zu sein scheint, lassen sich auch auf dieser Seite entpolitisierende Reaktionsweisen beobachten.« (Kühn: S. 116)

Die objektivistische linke Diskussion hatte dem Subjektivismus als dem abstrakten Gegenteil nichts entgegenzusetzen. Unsere Diskussion heute und die Diskussionen in den Polikliniken scheinen mir hier etwas weiter und reflektierter. Aber auch heute ist diese kritische Selbstreflexion kein Selbstläufer. Die Gefahr des Abdriftens besteht nach wie vor.

Nadja Rakowitz ist Soziologe und arbeitet in der Geschäftsstelle des Vereins demokratische Ärzt*innen, macht Bildungsarbeit für die Gewerkschaft ver.di und die RLS.

[1]      Renate Jäckle: Gegen den Mythos ganzheitliche Medizin, Hamburg 1985

[2]      Hagen Kühn: Glanzvolle Ohnmacht. Zum politischen Gehalt des Ganzheitlichkeitsanspruchs in der Medizin, in: Der ganze Mensch und die Medizin, Argument-Sonderband 162, Hamburg 1989, S. 111-128

[3]      Hans-Ulrich Deppe: Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar. Zur Kritik der Gesundheitspolitik, Frankfurt/Main 1987

[4]      Vgl. Thomas Kunkel / Nadja Rakowitz: Die Halbgötter müssen verrückt sein, in: Konkret 02/2021

[5]      Volk meint hier also nicht das, was in »Volkssouveränität« steckt und demokratisch universalistische, antibourgeoise Implikationen hat, wie das in anderen Sprachen üblich ist: the people, le peuple, il popolo, el pueblo etc.

[6]      Zur neuen Deutschen Heilkunde und dem Konzept der Ganzheitlichkeit vor und im NS, siehe: Robert Jütte: Geschichte der Alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute, München 1996 – Hier besonders interessant das Kapitel: »1.7 ›Ganzheitsmedizin‹ kontra ›technische Medizin‹ (1945-1995)«, S. 42-65

[7]      Siehe: Felix Ahls / Thomas Kunkel / Nadja Rakowitz / Bernhard Winter: Wehret den Anfängen. Über den Umgang mit antisemitischen Kommentaren im Deutschen Ärzteblatt, in: Gesundheit braucht Politik, 1/2020, http://gbp.vdaeae.de/index.php/183-2020/2020-1/1263-gbp-1-2020-ahls-kunkel-rakowitz-winter; Karoline Wagner: Erkennen und Widersprechen. Antisemitismus in der Medizin, in: Gesundheit braucht Politik, 3/2020, https://gbp.vdaeae.de/index.php/185-2020/2020-3/1304-gbp-3-2020-wagner

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