Mit zwei kleinen Anfragen zu „Schwerbehinderten in Deutschland“ (BT-Drucksache 19/1444) und zur „Entwicklung mehrerer Krankheiten in Deutschland“ (BT-Drucksache 19/1446) hat die Fraktion der AfD im Deutschen Bundestag versucht, die Ursachen und die Zunahme der Häufigkeit von Behinderungen und Infektionskrankheiten in Deutschland einseitig mit der „massenhaften Einwanderung“ von Flüchtlingen und dem Fortpflanzungsverhalten von Menschen mit Migrationshintergrund („Inzucht“) in Verbindung zu bringen.
Die AfD-Anfrage 19/1444 zielt darauf ab, ein erhöhtes Risiko für genetisch bedingte Erkrankungen bei Verwandtenehen auf die große Gruppe der Menschen mit Behinderungen in Deutschland zu übertragen. Sie erweckt den Eindruck, als sei der Anstieg der Anerkennungen von Schwerbehinderung in den letzten Jahren darauf zurückzuführen, dass Menschen mit Migrationshintergrund durch die bei ihnen verbreitete Praxis von Verwandtenehen für die Zunahme von schweren Behinderungen in Deutschland verantwortlich seien.
Tatsächlich ist jedoch nur ein geringer Teil von Behinderungen angeboren, in der Statistik der Schwerbehinderten 2015 waren es 3,8 %. Davon kann nur ein Teil auf eine spezifisch genetische Ursache zurückgeführt werden. In dieser Gruppe wiederum kommen Verwandtenehen zu einem verschwindend geringen Prozentsatz vor. Dessen ungeachtet transportiert die AfD die Botschaft, als könne die Zahl der Menschen mit schweren Behinderungen in Deutschland durch Maßnahmen gegen Menschen mit Migrationshintergrund signifikant reduziert werden.
Die damit zusammenhängende Anfrage der AfD zu einer vermeintlichen Zunahme von Infektionskrankheiten durch die Einwanderung von Flüchtlingen versucht ebenfalls, die damit angeblich verbundenen Mehrkosten im deutschen Gesundheitswesen als Argument gegen die betroffenen Menschen ins Feld zu führen.
Beide Anfragen bedienen sich bestimmter Vorurteilsmuster, die das Auftreten von Krankheiten und Behinderungen auf eine bestimmte Herkunft (Migrationshintergrund) bzw. ein bestimmtes unerwünschtes Fortpflanzungsverhalten („Inzucht“) zurückführen.
Unter dem Deckmantel einer parlamentarischen Anfrage, die auf den ersten Blick objektive Zahlen als Grundlage für die Lösung gesellschaftlicher Probleme zu erheben sucht, werden Menschen mit Behinderungen und Migrationshintergrund pauschal stigmatisiert. Dabei wird der Eindruck erweckt, als stellten sie eine vermeidbare ökonomische Belastung für das deutsche Gesundheitswesen dar.
Deutschland trägt in dieser Hinsicht eine besondere Verantwortung. Im Nationalsozialismus wurden schätzungsweise 300.000 Menschen mit Behinderungen ermordet, nachdem man sie als „Ballastexistenzen“ aus der menschlichen Gemeinschaft ausgegrenzt und zu „lebens-unwertem Leben“ erklärt hatte. Gleichermaßen sind etwa 400.000 Menschen gegen ihren Willen ihrer Fruchtbarkeit beraubt und in ihrer körperlichen und seelischen Integrität dauer-haft beschädigt worden, weil man sie als „erbbiologisch minderwertig“ deklariert hatte. So-wohl die nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde als auch die Zwangssterilisation beruhten auf zum Teil anscheinend wissenschaftlich begründeten, seit dem Ende des 19. Jahrhun-derts etablierten Konzepten, mit denen der unterschiedliche Wert von Menschen und menschlichem Leben anhand von genetischen, sozialen und „rassischen“ Merkmalen be-stimmt wurde. Ausgewählte Gruppen von Menschen, die als Gefahr für die „Volksgesundheit“ angesehen wurden, sollten dementsprechend aus dem „Volkskörper“ ausgeschieden werden.
Vor dieser historischen Verantwortung und im Hinblick auf die im Grundgesetz verankerte Würde des Menschen ist es inakzeptabel, wenn erneut – zumal im Deutschen Bundestag – Menschen mit Behinderungen und Menschen mit Migrationshintergrund – sei es auch indirekt – als Last für die Gesellschaft dargestellt und damit diskriminiert werden. Vielmehr geht es darum, dass alle Menschen – unabhängig von Alter, Religion, ethnischer Herkunft, Ge-schlecht, Staatsangehörigkeit, politischer Zugehörigkeit, „Rasse“, sexueller Orientierung oder Behinderung – in gleicher Weise Zugang zur Gesundheitsversorgung bekommen und ihren Bedürfnissen entsprechend die staatliche und gesellschaftliche Unterstützung erhalten, de-rer sie bedürfen, um am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.
Als Bürgerinnen, Bürger und im Gesundheitswesen tätige Menschen erwarten wir von der Politik, behindertenfeindlichen, fremdenfeindlichen sowie an einer vermeintlichen eugenischen Optimierung des Volkes orientierten Bestrebungen entschieden entgegenzutreten. Die Gesundheits- und Sozialpolitik in Deutschland soll auch in Zukunft ein solidarisches Miteinander von Gesunden und Kranken bzw. Menschen mit Behinderungen fördern und die-sem nicht zuwiderlaufen. Die Würde des Menschen ist unteilbar!
Korrespondenzanschriften:
- Prof. Dr. Gerrit Hohendorf, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der TUM, Ismaninger Str. 22, 81675 München
- Prof. Dr. Susanne Moebus, MPH, Präsidentin Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP), Zentrum Urbane Epidemiologie (Cue), Universitätsklinikum Essen – Universität Duisburg-Essen, Hufelandstraße 55, 45147 Essen
- Dr. med. Ute Teichert, Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes Berlin (BVÖGD), Bundesgeschäftsstelle, Manfred-von-Richthofen-Str. 19, 12101 Berlin
Unterschriften von Institutionen, Verbänden und Vereinen:
- Dr. med. Andreas Wulf, geschäftsführender Vorstand des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte, Frankfurt am Main
- Dr. Gabriele Moser, Dr. Joseph Kuhn, Sprecher der Arbeitsgruppe Geschichte von Sozialmedizin, Sozialhygiene und Public Health der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP)
- Assoc.-Prof. Dr. Peter Schröder-Bäck, Sprecher der Arbeitsgruppe Public Health-Ethik der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP)
- Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP): Prof. Dr. Susanne Moebus, Dr. Sabine Grotkamp, Prof. Dr. Julika Loss, Prof. Dr. Sven Schneider, Dr. Gert von Mittelstaedt, Prof. Dr. Ulla Walter, PD Dr. Dr. Anja Neumann, Prof. Dr. Johannes Gostomzyk
- Dr. med. Ute Teichert für den Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes, Berlin
- Dr. Ulrich Clever, Präsident der Landesärztekammer Baden-Württemberg, Stuttgart
- Dr. med. Regine Simon, Vorsitzende Verband der Vertragspsychotherapeuten vvps e. V., Freiburg
- Dr. Bärbel-Maria Kurth für die Steuerungsgruppe des Zukunftsforums Public Health, Robert Koch-Institut, Abt. Epidemiologie und Gesundheitsmonitoring, Berlin
- Dr. med. Günther Egidi, Arzt für Allgemeinmedizin, Sprecher der Sektion Fortbildung der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM), Bremen
- Für den Vorstand der Akademie für Ethik der Medizin e. V.: Prof. Dr. Georg Marckmann, München, Prof. Dr. Annette Riedel, Hochschule Esslingen, Dr. Gerald Neitzke, Hannover, Prof. Dr. Silke Schicktanz, Göttingen, Prof. Dr. Jan C. Joerden, Frankfurt (Oder), Prof. Dr. Ralf Stoecker, Bielefeld, Prof. Dr. Dr. Eva Winkler, Heidelberg und als Geschäftsführer Prof. Dr. Alfred Simon
- Für die die Regionalgruppe Nürnberg-Erlangen-Fürth der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges – Ärzte in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW): Prof. Dr. med. Hannes Wandt, Internist, Onkologe, Nürnberg, Dr. med. Elisabeth Wentzlaff, Psychosomatik, Klinikum Nürnberg, Dr. med. Holger Wentzlaff, Arbeitsmediziner, Erlangen, Dr. med. Wolfgang Lederer-Kanawin, Allgemeinarzt, Nürnberg, Dr. med. Alfred Estelmann, Kinder- und Jugendarzt, ehem. Vorstand Klinikum Nürnberg, Dr. med. Horst Seithe, Kinder- und Jugendarzt, Nürnberg
- Dr. Stefan Raueiser, Bildungswerk des Bayerischen Bezirketags, Kloster Irsee
- Prof. Dr. Rolf Rosenbrock, Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes – Gesamtverband Berlin
- Ilse Macek für die Regionale Arbeitsgruppe München Gegen Vergessen Für Demokratie e. V.
- Andreas Ehresmann, Dr. Harald Schmid, Thomas Stöckle, Dr. Rainer Stommer, Sprecherrat des FORUM der Landesarbeitsgemeinschaften der Gedenkstätten, Erinnerungsorte und -initiativen in Deutschland
- Prof. Dr. Michael von Cranach, Sprecher der Arbeitsgruppe „Psychiatrie und Fürsorge im Nationalsozialismus in München“
Der 32. Deutsche Therapeutentag hat am 20. und 21. April 2018 in Bremen eine gekürzte Fassung dieser Stellungnahme als Resolution verabschiedet.
Unterschriften von Einzelpersonen finden Sie in der pdf-Datei.