Die derzeitigen Maßnahmen sind drastisch und allein auf die Reduktion der Ausbreitungsgeschwindigkeit gerichtet. Das ist ein wichtiges Ziel!
Die Eingriffe in Demokratie, Selbstbestimmung und ins Funktionieren der Zivilgesellschaft sind erheblich und in ihren Folgen nachhaltig bedrohlich. Es sind gesellschaftliche und kulturelle Strukturen gefährdet, die sich nicht allein mit staatlichen Zuschüssen oder Steuererleichterungen wieder herstellen lassen.
Viele Menschen erfahren durch die Art der öffentlichen Berichterstattung eine ausgesprochene Panik, innere Konflikte, Angststörungen und Wahnvorstellungen. Psychosen brechen aus und wir befürchten, dass die Suizidrate steigen könnte und Krankheiten zu spät erkannt werden könnten. Es gibt Berichte, dass Schwangeren ein Kaiserschnitt geraten wird und dass Väter nicht bei der Geburt anwesend sein sollten. So etwas lehnen wir ausdrücklich ab. Es gibt für solch ein Vorgehen keine vernünftige Begründung. Hier hat die Panik schon Einzug in die Medizin gehalten.
Der Rückzug ins „Private“ ist für viele nicht ein Hort der Sicherheit, sondern auch Beförderung häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder. Das individuelle Risiko wird überschätzt und gleichzeitig verstehen viele noch nicht ausreichend, dass diese Infektion eine Tröpfcheninfektion ist. Die Menschen desinfizieren sich die Hände, aber die Köpfe werden zusammen gesteckt und damit die Übertragung gefördert. Hier hat die Orientierung auf die an sich immer richtige Händedesinfektion die Menschen in die Irre geführt.
Die Ökonomie, die bisher kapitalistisch auf individuelle Profite ausgerichtet ist, verschärft die Probleme weiter. Viele private gesundheitliche Einrichtungen, wie etwa Krankenhäuser aber auch Praxen u.a., arbeiten weiter gewinnorientiert, anstatt die Ressourcen auf die Bewältigung der Pandemie auszurichten.
Wenn private Klinikkonzerne mit Kurzarbeit oder gar mit Entlassungen drohen, da elektive Eingriffe verschoben und somit nur notwendige Behandlungen durchgeführt werden, unterstreicht es die Dringlichkeit, diese Einrichtungen gesellschaftlich zu kontrollieren und zu steuern. Wir unterstützen die Forderung der Pflegenden, berufsübergreifende Krisenstäbe zu bilden. Dieses kann ggf. durch die Bundesländer und die zuständigen Ministerien eingeleitet werden.
Das deutsche und andere europäische Gesundheitssysteme setzen darauf, fehlende Ressourcen an Medikamenten, Ersatzteilen und Schutzkleidung aus dem Ausland zu beziehen, geben andererseits die Devise aus (von der Leyen), derzeit nicht gesundheitsrelevantes Material nach außerhalb Europas zu exportieren. Auf der anderen Seite reisen kubanische Ärzt*innen nach Italien, um zu helfen. Das ist ein richtiges Zeichen für eine internationale Solidarität. Ein ähnliches Zeichen wünschen wir uns innerhalb von Europa, anstatt die Grenzen zu schließen.
Die Pandemie droht die soziale Spaltung noch zu verschärfen. Viele Menschen sind von Armut betroffen. Armut wiederum verkürzt eindeutig das Leben unabhängig von der Pandemie. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird es bei ärmeren Menschen häufiger zu schweren Coronavirusinfektionen kommen aus vielerlei sozioökonomischen Gründen. Es ist jetzt die Zeit, die Wirtschaft und die gesellschaftliche Daseinsfürsorge grundsätzlich neu auszurichten.
Menschen in Gruppenunterkünften wie etwa Gefangene, Geflüchtete oder Wohnungslose sind insbesondere gefährdet und vulnerabel, da sie sich nicht voneinander fernhalten können und auf der anderen Seite überdurchschnittlich häufig geschwächt oder vorerkrankt sind. Das gilt für Geflüchtete im Süden und Osten der europäischen Grenzen im besonderen Maße. Diese Menschen brauchen unsere Hilfe!
Unsere gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Entscheidungsträger dürfen sich nicht von der virologischen Perspektive allein leiten lassen, sondern müssen dringend die Folgen der jeweiligen Schutzmaßnahmen ins Kalkül ziehen und diese deshalb möglichst rasch wieder aufheben, um das gesellschaftliche Leben neu zu organisieren. Es gibt für diese weitreichenden Maßnahmen bisher keine wissenschaftliche Evidenz. Bei der Diskussion um Ausgangssperren müssen dringend die sozialen Unterschiede berücksichtigt werden. So ist eine Ausgangssperre für Menschen, die in großen Wohnungen oder in Häusern mit Gärten wohnen, eine erhebliche geringere Belastung, als für z.B. eine Familie in einer kleinen Wohnung. Der Schaden dieser Maßnahmen darf am Ende nicht größer sein als der Nutzen.
Die privaten Klinikkonzerne, die nun fürchten, Verluste zu machen, haben zuvor hohe Dividenden erzielt. Es darf nicht sein, dass für die Verluste die Gesellschaft aufkommt, während die Gewinne der letzten Jahre privatisiert wurden. Die Krankenhäuser gehören in gesellschaftlichen Besitz. Jetzt ist die Zeit, diese Unternehmen zu enteignen. In Zeiten der Verunsicherung, Angst, der Bedrohung von Gesundheit, Leben und wirtschaftlicher Existenz stünde es uns Ärzt*innen gut an, unsere gesellschaftliche Pflicht zu erfüllen und nicht zuerst eine höhere Vergütung zu fordern.
Die Unterzeichner, Mitglieder der Regionalgruppe Hamburg des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte, appellieren, sowohl innerhalb unserer Gesellschaft wie international solidarisch Ressourcen zu teilen, die Bekämpfung des Virus weltweit zu unterstützen. Es verbietet sich derzeit, insbesondere medizinisches Personal aus Ländern abzuwerben, die durch die Pandemie stärker bedroht sind.
Eine Pandemie lässt sich nur mit einer Weltperspektive aber nicht national besiegen. Unsere Ökonomie so wie die medizinische Versorgung muss auf das Wohl der Menschheit ausgerichtet sein.
Unterzeichner
Prof. Dr. Jochen Dahm-Daphi, Facharzt für Allgemeinmedizin, niedergelassen; Dr. Rachel Helmers, Ärztin; Kai Uwe Helmers, Facharzt für Allgemeinmedizin niedergelassener Hausarzt, Shanti Hesse-Khosla, Ärztin in Weiterbildung Allgemeinmedizin; Dr. Eckhard Zeigert, Facharzt für Allgemeinmedizin niedergelassener Hausarzt
Pressekontakt: Kai-Uwe Helmers praxishelmers (at) gmx.net, 040/39808661
Jochen Dahm-Daphi praxis (at) hausaerzteamspritzenplatz.de, 040/396660